Juli 15, 2025

Macht das Geschlecht einen Unterschied beim Weaning?

In den letzten Jahren rückt die Bedeutung geschlechtsspezifischer Unterschiede in der Medizin zunehmend in den Fokus der Forschung. Denn bis dato hat sich die Forschung hauptsächlich auf den Mann konzentriert – in vielen Bereichen werden Frauen auch heute noch behandelt wie „kleine Männer“. Frauen und Männer unterscheiden sich jedoch nicht nur in Bezug auf Hormone und Körperbau, sondern auch hinsichtlich Symptomausprägung, Krankheitsverlauf, Therapieansprechen und Nebenwirkungsprofilen. Das inzwischen bekannteste Beispiel ist der Herzinfarkt: Frauen erleben häufig ganz andere Symptome wie z.B. Kurzatmigkeit, Schweißausbrüche, Rückenschmerzen, Übelkeit bis zu  Erbrechen oder Schmerzen im Oberbauch.

 

Unterschiede zeigen sich auch in der Beatmungstherapie und dem Weaning:

Eine Studie der Thoraxklinik des Universitätsklinikums Heidelberg, veröffentlicht in der Fachzeitschrift Respiratory Research (2024), beleuchtet erstmals differenziert geschlechtsspezifische Risikofaktoren beim prolongierten Weaning.

 

Unterschiedliche Risikofaktoren bei Männern und Frauen

In der retrospektiven Analyse wurden 785 Patient:innen betrachtet, die zwischen 2008 und 2023 im Weaning-Zentrum der Uniklinik Heidelberg behandelt wurden. Der Fokus lag auf Patient:innen mit prolongiertem Weaning – also jenen, die auch eine Woche nach dem ersten Entwöhnungsversuch noch invasiv beatmet werden mussten.

 

Das zentrale Ergebnis: Die Erfolgsrate des Weanings war bei Frauen (77,9 %) und Männern (75,4 %) nahezu identisch. Das biologische Geschlecht allein stellte also keinen unabhängigen Risikofaktor für ein Scheitern des Entwöhnungsprozesses dar. Dennoch zeigten sich in der Detailanalyse auffällige Unterschiede bei den Faktoren, die den Erfolg des Weanings beeinflussten:

 

Bei Männern war ein Alter über 65 Jahre sowie eine längere Dauer der Beatmung vor Verlegung in das Weaning-Zentrum mit einem höheren Risiko dafür verbunden, dass das Weaning nicht gelang.

 

Bei Frauen wirkten sich mehrere Faktoren nachteilig aus:

  • Längere Beatmungsdauer vor Verlegung (wie bei den Männern),
  • eine bereits vorbestehende nicht-invasive Beatmung,
  • das Vorliegen einer sogenannten Critical-Illness-Polyneuropathie (CIP, dabei sind die peripheren Nerven, also die Nervenverbindungen zwischen Gehirn und Körper, gestört), sowie
  • das Auftreten eines Delir (s.u.) während des Intensivaufenthalts.

 

Delir – ein häufiges Problem mit einem überraschenden Unterschied zwischen den Geschlechtern

Ein Delir ist eine akute Störung des Bewusstseins und der Aufmerksamkeit. Es kann sich durch Verwirrtheit, Halluzinationen, Desorientierung oder starke Unruhe äußern. Diese Verwirrtheitszustände treten beispielsweise häufig nach einer invasiven Beatmung auf. Ein Delir ist nicht nur für die Betroffenen sehr belastend, sondern kann auch den Genesungsverlauf erheblich beeinträchtigen.

 

In der Datenauswertung der Studie zeigte sich ein überraschender Unterschied: Während ein Delir bei Frauen mit einem schlechteren Weaning-Verlauf verbunden war, war es bei Männern unerwartet mit einem besseren Ergebnis assoziiert. Warum das so ist, bleibt unklar.

Der Versuch einer Erklärung

Eine mögliche Erklärung ist, dass das Delir bei Frauen oft anders ausgeprägt ist und darum schwerer zu erkennen: Bei Männer zeigt sich ein Delir häufiger durch hyperaktive Symptome (z. B. Unruhe oder Aggressivität), bei Frauen hingegen äußert es sich oftmals durch Apathie, Schläfrigkeit, Verlangsamung oder Desorientierung – also sogenannte hypoaktive Symptome, die schwerer erkennbar sind und auch anders erklärt werden können (z.B. treten sie auch bei Demenz oder Depressionen auf). Daher wird ein Delir bei Frauen oft später oder nur bei sehr starker Ausprägung erkannt.

Während bei Männern ein Delir dadurch eventuell öfter und früher diagnostiziert wird (also auch mildere oder schnell reversible Fälle im Krankenblatt notiert sind), erscheinen bei Frauen nur die schlimmeren Verläufe des Delirs in der Analyse – also jene mit ungünstigem Effekt auf die Beatmungsentwöhnung.

Eine weitere Möglichkeit ist, dass ein hypoaktives Delir (häufiger bei Frauen) nicht nur seltener erkannt wird, sondern möglicherweise tatsächlich mit schlechterem Verlauf assoziiert ist. Es ist oft langwieriger, wird mit Depression verwechselt, verzögert die Mobilisation und kann ohne Behandlung über Wochen bestehen bleiben. Das verschlechtert den Weaning-Verlauf. Beim hyperaktiven Delir (häufiger bei Männern) ist dagegen eine frühzeitige Erkennung durch Unruhe/Aggression wahrscheinlicher – mit der Folge einer rascheren Intervention und dadurch ggf. kürzerem Verlauf. Dies bleibt aber zunächst rein spekulativ.

 

Was bedeuten die Ergebnisse für die Praxis?

In der Studie zeigten sich deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede beim prolongierten Weaning. Während die Gesamtergebnisse zwischen den Geschlechtern ähnlich waren, unterschieden sich die Risikofaktoren deutlich. Diese Unterschiede könnten durch biologische oder immunologische sowie systemische und kognitive Unterschiede, aber auch durch Bias-Faktoren erklärt werden. Wobei mit ‚Bias‘ unbeabsichtigte Verzerrungen gemeint sind oder aber Vorannahmen, die Entscheidungen oder Diagnosen beeinflussen können – etwa durch stereotype Wahrnehmungen oder unbewusste Erwartungen gegenüber einem bestimmten Geschlecht.

 

Die Ergebnisse werfen auf jeden Fall die Frage auf, ob das Geschlecht in der Therapieplanung beim Weaning stärker berücksichtigt werden sollte. Die Studie basiert jedoch auf retrospektiv analysierten Daten eines einzelnen Zentrums. Das bedeutet, dass nur Daten, die bereits in einem anderen Zusammenhang erhoben worden waren, zur Auswertung verwendet wurden und zudem nur auf einen Standort beschränkt waren. Dadurch kann es manchmal zu Verzerrungen kommen: Dies liegt daran, dass genaue Informationen über die Begleiterkrankungen, insbesondere zu Delirium, CIP und Pneumonie fehlen, da nicht (wie bei prospektiven Studien, s.u.) zum Zeitpunkt des Krankenhausaufenthalts schon darauf geachtet werden konnte, zu den immer gleichen Kriterien die gewünschten Daten zu erheben. Diagnostik und Zeitverläufe dieser Erkrankungen konnten daher nicht differenziert analysiert werden. Im nächsten Schritt sollte also eine sogenannte „prospektive“ Studie durchgeführt werden. Prospektiv bedeutet, dass eine Studie vorausblickend geplant und die Daten ab einem bestimmten Zeitpunkt systematisch erhoben werden. Lohnen würde sich dies in jedem Fall, denn ein besseres Verständnis geschlechtsspezifischer Risikofaktoren kann dazu beitragen, die Prognose zu verbessern und damit noch personalisiertere und damit wirkungsvollere Weaning-Strategien zu entwickeln.

 

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