Februar 15, 2023

Selbstbestimmt leben mit Beatmung

Wann hat das letzte Mal ein anderer Mensch für Sie eine bedeutende Entscheidung getroffen? Wo Sie leben zum Beispiel. Oder zu welchem Arzt Sie gehen. Oder welche Therapie für Sie die richtige ist. Wann hat das letzte Mal jemand über Ihre Bedürfnisse hinwegentschieden und Sie behandelt, als wären Sie unmündig?

Auch wenn sich bei der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung in den letzten Jahrzehnten viel getan hat, müssen sie sich in vielen Bereichen ein selbstbestimmtes Leben und eine Teilhabe an der Gesellschaft hart erkämpfen und erstreiten.

In unserer aktuellen Podcast-Folge hat Frau Litke mit Herrn Dr. Matthias Wiebel darüber gesprochen.

Die „menschliche Geschichte“ der Beatmungsmedizin

Herr Dr. Wiebel war 30 Jahre lang Oberarzt in der Abteilung Innere Medizin und Pneumologie an der Thoraxklinik in Heidelberg. Er behandelte und begleitete schon in den 1980er Jahren beatmete Patient:innen und war bereits in der zweiten Staffel zu Gast in unserem Podcast. Dort haben wir gemeinsam mit Herrn Dr. Wiebel einen Blick auf die technische Geschichte der Beatmungsmedizin geworfen. Dieses Mal geht es um die Perspektive der Betroffenen und welche Freiheiten für beatmete Menschen durch die Weiterentwicklung der Beatmungsmedizin entstanden sind. Vor allem geht es in dieser Podcast-Folge jedoch darum, wie sehr Menschen mit Behinderung, die auf eine maschinelle Beatmung angewiesen sind, selbst dafür kämpfen mussten und müssen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, mit ihren Bedürfnissen ernst genommen und als Expert:innen für ihre individuelle Krankheitsgeschichte anerkannt zu werden.

Herr Dr. Wiebel berichtet von seinen ersten Begegnungen mit beatmeten Menschen. Auch davon, dass er selbst eine Menge von ihnen gelernt hat. „Wir mussten umdenken“, sagt er und meint damit sich und seine Kolleg:innen, die erst lernen mussten, zu verstehen, dass die Patient:innen viel mehr darüber wussten, welche Unterstützung  sie brauchen und wo sie diese erhalten können, als er und seine Kolleg:innen. Und dann erzählt er von der Pfennigparade und der Independent Living-Bewegung.

Die Pfennigparade und die Independent Living-Bewegung

Die Pfennigparade ist das deutsche Pendant zum “March of Dimes”, einer US-amerikanischen Wohltätigkeitsorganisation, die sich auf die Prävention und Behandlung von Kinderlähmung (Poliomyelitis) konzentrierte. Die Organisation wurde 1938 von US-Präsident Franklin D. Roosevelt gegründet und hatte ihren Höhepunkt in den 1950er Jahren, als sie erfolgreich dazu beitrug, die Verbreitung der Kinderlähmung einzudämmen und schließlich zu besiegen.

Unabhängig davon entstand in den 1960er Jahren die Bewegung „Independent Living“ (unabhängiges Leben), ebenfalls in den USA. Sie wurde vor allem durch die Arbeit von Menschen mit Behinderungen, die für ihre Rechte und ihre Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft kämpfen mussten, initiiert und vorangetrieben,. Ein wichtiger Schritt dieser Bewegung war die Gründung der ersten unabhängigen Wohnstätte für Menschen mit Behinderungen in Berkeley (Kalifornien) im Jahr 1972.

Independent Living setzte sich für die Abschaffung von Einrichtungen ein, in denen Menschen mit Behinderung regelrecht verwahrt und vor allem bevormundet wurden. Außerdem stand die Förderung der Inklusion von Menschen mit Behinderungen in die Gesellschaft im Fokus. Dinge, die heute alltäglich erscheinen, mussten damals mühsam erstritten werden: die Schaffung von barrierefreien Wohnungen und öffentlichen Gebäuden, die Finanzierung von Assistenzleistungen und die Förderung der Selbstbestimmung und Selbstvertretung von Menschen mit Behinderungen. Diese Ideen und Forderungen haben dazu beigetragen, das Verständnis von Behinderung und die Art und Weise, wie die Gesellschaft mit Menschen mit Behinderungen umgeht, zu verändern.

Betroffene helfen sich gegenseitig: Counsel-Culture!

Schon immer waren es in erster Linie Menschen mit Behinderung, die Menschen mit Behinderungen am besten unterstützen können. An wen wendet man sich im Fall XY? Welche Hilfsmittel sind tatsächlich praktikabel? Mit welchen Tricks kann man sich den Alltag erleichtern? Fragen dieser Art können Menschen, die selbst betroffen sind, am besten beantworten. Wenn Menschen mit ähnlichen Erfahrungen oder Herausforderungen sich gegenseitig beraten und unterstützen  nennt man das  auch  “Peer counseling” (oder “peer-to-peer counseling”).

Im Kontext der Behindertenbewegung gehört zum “peer counseling” auch die Unterstützung durch Menschen mit ähnlichen Behinderungen, um die Selbstbestimmung, die Selbstvertretung und die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu fördern. Dies beginnt bei Selbsthilfegruppen, geht über Online-Foren und soziale Medien, bis hin zur Initiative von Betroffenen, die gezielt durchs Land reisen, um Menschen in vergleichbaren Situationen zu unterstützen. Zwei von diesen unglaublich starken Persönlichkeiten stellen wir Ihnen in den kommenden Folgen unseres Podcasts noch vor.

Eine Podcast-Folge, die nachdenklich macht

In diesem Blog-Artikel haben wir nur einige Punkte dessen zusammenfassen können, was Herr Dr. Wiebel in der Podcast-Folge alles erzählt. Und selbst das hört sich aus seinem Mund deutlich lebendiger und detailreicher an. Herr Dr. Wiebel hat eine ganz besondere Art, aus der Vergangenheit zu berichten. Zumindest uns hat er mit seinen Erzählungen wieder einmal gefesselt, weshalb wir Ihnen die Folge nur empfehlen können.

Wenn Sie  weitere Einblicke in die Anfänge des Kampfes um mehr Selbstbestimmung und Inklusion bekommen möchten, empfehlen wir Ihnen auch die Dokumentation „Aufstand der Betreuten“ aus den 1980er Jahren, die Herr Dr. Wiebel in der Podcast-Folge anspricht. Zu finden ist sie zum Beispiel auf Youtube – die Videoqualität ist eher dürftig, der Inhalt jedoch hochinteressant!

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

PHA+PGlmcmFtZSB0aXRsZT0iWW91VHViZSB2aWRlbyBwbGF5ZXIiIHNyYz0iLy93d3cueW91dHViZS1ub2Nvb2tpZS5jb20vZW1iZWQvREd2cWtpRDJuYmMiIHdpZHRoPSI1NjAiIGhlaWdodD0iMzE1IiBmcmFtZWJvcmRlcj0iMCIgYWxsb3dmdWxsc2NyZWVuPSJhbGxvd2Z1bGxzY3JlZW4iPjwvaWZyYW1lPjwvcD4=

Haben Sie Fragen oder benötigen Sie Informationsmaterial?

Dann hören Sie gerne in unseren Podcast hinein. Die Links zu Spotify und Youtube finden Sie bei den Social-Icons auf dieser Seite. Der Podcast steht Ihnen jedoch auch auf allen anderen gängigen Plattformen zur Verfügung. In unserem Downloadbereich können Sie sich außerdem gerne die Flyer für Patient:innen oder Fachkreise herunterladen. Auf der Startseite finden Sie darüber hinaus ein Erklärvideo, das PRiVENT kurz und knapp erklärt. 

Leave a comment