Die Zeit auf einer Intensivstation, insbesondere bei einer Beatmung, ist eine extreme Belastung – nicht nur für den Körper, sondern auch für die Psyche. Was viele Angehörige nicht wissen: Auch nach der Entlassung haben Patient:innen oft noch lange mit den Folgen dieser Erfahrung zu kämpfen. Angstzustände, Depressionen und das sogenannte Post-Intensivpflege-Syndrom (Post-Intensive-Care-Syndrom (PICS)) sind häufige Begleiter. Für Angehörige kann es schwer sein, mögliche Verhaltensänderungen sowie die Ängste und Sorgen eines geliebten Menschen zu verstehen und damit umzugehen. In diesem Artikel erklären wir, was hinter dem Post-Intensivpflege-Syndrom steckt und wie Patient:innen nach der Entlassung unterstützt werden können.
Was ist das Post-Intensivpflege-Syndrom oder Post-Intensive-Care-Syndrom (PICS)?
PICS umfasst körperliche, psychische und kognitive Probleme, die nach einer Behandlung auf der Intensivstation auftreten können. Besonders häufig sind Menschen betroffen, die künstlich beatmet wurden. Die Symptome können Wochen, Monate oder sogar Jahre anhalten.
Zu den psychischen Aspekten von PICS gehören u.a.:
- Angststörungen: Patient:innen berichten oft von einer unerklärlichen Nervosität, plötzlichen Panikattacken oder Sorgen.
- Depressionen: Hoffnungslosigkeit, Antriebslosigkeit und Traurigkeit gehören zu den häufigsten Symptomen.
- Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS, im Englischen „post-traumatic stress disorder (PTSD)“): Intensive Erinnerungen an die Zeit auf der Intensivstation oder das Gefühl, die Luftnot erneut zu erleben, können die Betroffenen regelrecht überwältigen.
Warum treten diese Symptome auf?
Die Intensivstation ist ein Ort, an dem Körper und die Psyche enorm beansprucht werden. Stellen Sie sich vor, Sie wachen an einem Ort auf, der Ihnen fremd ist. Überall sind blinkende Lichter, piepsende Monitore und Menschen in Schutzkleidung, die Sie nicht kennen und nicht richtig verstehen können. Sie können nicht sprechen, weil ein Beatmungsschlauch in Ihrem Hals ist, und Sie spüren, dass Sie völlig abhängig von den Geräten und dem Pflegepersonal sind. Das Gefühl der Kontrolle über Ihren Körper und Ihr Leben ist plötzlich verschwunden.
Für viele Patient:innen sind diese Erfahrungen verständlicherweise traumatisch. Die auslösenden Erkrankungen oder Unfälle sowie die Intensivstation selbst hinterlassen daher nicht nur körperliche, sondern auch psychische Spuren. Die kritischsten Faktoren sind:
Hilflosigkeit und Kontrollverlust: Die Beatmung schränkt die Kommunikation ein und zwingt die Betroffenen in eine vollständige Abhängigkeit. Diese Hilflosigkeit kann tiefgreifende Ängste auslösen, die auch nach der Entlassung bestehen bleiben.
Traumatische Erlebnisse: Invasive Maßnahmen wie das Einführen des Beatmungsschlauchs (Intubation) oder andere lebensrettende Eingriffe müssen oft schnell erfolgen und sind beängstigend. Selbst wenn die Patient:innen bewusstlos waren, können einzelne Bruchstücke dieser Erlebnisse wahrgenommen worden sein. Durch dieses bruchstückhafte Erleben können unangenehme oder traumatische Eindrücke noch verstärkt werden, da das Gehirn sie nicht korrekt zuordnen kann.
Verwirrung und Desorientierung: Viele Patient:innen erleben ein sogenanntes Delir, einen Zustand der Verwirrung, der durch Medikamente, die lange Bewusstlosigkeit und das ungewohnte Umfeld ausgelöst werden kann. Dieser Zustand kann sehr verstörend sein, Erinnerungen und Wahrnehmungen verzerren und lange nachwirken.
Die Weaning-Phase – die schrittweise Entwöhnung von der Beatmung – kann ebenfalls als belastend empfunden werden, weshalb sie immer von einem Team aus Spezialist:innen inkl. psychotherapeutischer Begleitung betreut werden sollte. Die Angst, auf dem Weg zur selbstständigen Atmung nicht genug Luft zu bekommen, kann sich verselbstständigen – wodurch Atemnot verstärkt wird oder sogar erst entsteht. Vielleicht kennen Sie aus eigener Erfahrung, wie Angst und Sorgen die Atmung flacher machen und einschränken können. Die gerichtete Panik vor dem Ersticken verstärkt diesen Effekt noch. Kombiniert mit der körperlichen Schwäche während eines Intensiv-Aufenthalts oder im Rahmen der Rehabilitation, kann sich die Panik tief in das Gedächtnis einbrennen und später Ängste oder sogar posttraumatische Symptome auslösen.
Der schwere Weg zurück in die Normalität
Nach einem Aufenthalt auf der Intensivstation und vor allem nach einer maschinellen Beatmung kann es für viele Patient:innen schwer sein, in den Alltag zurückzufinden. Angehörige nehmen oft Veränderungen wahr, die schwer einzuordnen sind. Dazu gehören zum Beispiel:
- Emotionale Rückzugstendenzen: Viele Patient:innen ziehen sich zurück und haben Schwierigkeiten, ihre Gefühle auszudrücken. Das liegt u.a. oft an der Überforderung, die sie empfinden.
- Veränderte Gewohnheiten und allgemeine Rückzugtendenzen: Hobbys, gesellige Abende, Freizeitaktivitäten u. ä. fallen auf einmal weg. Dies liegt nicht an mangelndem Interesse, stattdessen sind die Aktivitäten, die Betroffenen früher leichtgefallen sind, oft zu einer unüberwindbaren Hürde geworden.
- Reizbarkeit und Stimmungsschwankungen: Kleine Konflikte oder der ganz normale, alltägliche Stress können aufgrund der erhöhten Anspannung und (teils unbewusster) Ängste zu unverhältnismäßigen Reaktionen führen.
- Schlafstörungen und Erschöpfung: Traumatische Erinnerungen oder Albträume können schlafraubend sein und die Betroffenen tagsüber müde und reizbar machen, auch wenn ein gestörter Schlaf nicht immer bewusst wahrgenommen wird.
Die Betroffenen brauchen viel Verständnis. Wichtig dabei: die genannten Veränderungen sind kein Zeichen von “Schwäche” oder fehlendem Willen, sondern normale Reaktionen auf eine außergewöhnliche Belastung.
Wie können Angehörige helfen?
Die Unterstützung durch Angehörige, Freund:innen und Bekannte kann für die Genesung entscheidend sein. Hier sind einige praktische Tipps, wie Sie ehemaligen Intensiv-Patient:innen zur Seite stehen können:
- Offene Kommunikation fördern: Sprechen Sie über Ängste und Sorgen, ohne zu bewerten – über die des Betroffenen, aber auch über Ihre eigenen. Manchmal hilft es, einfach zu reden, ohne Lösungen anzubieten oder einzufordern.
- Verständnis zeigen: Ein offener und vor allem verständnisvoller Umgang miteinander ist wichtig – versuchen Sie daher, die Situation auch aus Sicht der Betroffenen zu betrachten.
Haben Sie unbedingt auch Verständnis für sich selbst! Es ist in Ordnung und völlig normal, dass auch Sie manchmal überfordert mit der Situation sind. - Routine und Sicherheit schaffen: Strukturen und Rituale im Alltag helfen den Betroffenen, sich wieder sicher zu fühlen. Unterstützen Sie bei der Suche nach neuen Hobbys oder dem Aufgreifen alter Interessen, ohne dabei Druck auszuüben.
- Haben Sie Geduld: Genesung braucht Zeit – sowohl körperlich als auch psychisch. Und zwar in aller Regel mehr, als Außenstehende für möglich halten. Drängen Sie nicht auf schnelle Fortschritte und akzeptieren Sie, dass Rückschläge normal sind. Es ist wichtig, die vielen kleinen Fortschritte zu sehen und nicht nur das „große Ganze“ im Blick zu haben.
Und haben Sie auch Geduld mit sich selbst. Die Situation ist auch für Angehörige immens belastend. Den Umgang damit zu lernen, geht für Sie nicht von heute auf morgen.
Unter Umständen kann es sinnvoll sein, professionelle Hilfe einzubeziehen. Auch hier gilt: Sprechen Sie darüber, bieten Sie an, seien Sie selbst offen dafür, aber bewerten Sie nicht und fordern Sie nicht ein. Nicht jede:r ist empfänglich dafür. Betroffene, die in ihrem eigenen Tempo und mit ihren Strategien im Verarbeitungsprozess stehen, können die Empfehlung von externen Angeboten leicht fehlinterpretieren und als „es geht nicht schnell genug voran“ missverstehen.
Zu den möglichen Unterstützungen gehören zum Beispiel:
- Psychotherapie: Besonders hilfreich kann eine traumatherapeutische Begleitung sein, um belastende Erinnerungen zu verarbeiten.
- Rehabilitation: Spezialisierte Reha-Kliniken können körperliche und psychische Nachwirkungen gezielt behandeln.
- Selbsthilfegruppen: Austausch mit anderen Betroffenen und Angehörigen kann entlastend wirken.
Achten Sie auch auf sich selbst!
Als Angehörige tragen auch Sie eine große Last. Es ist wichtig, dass Sie auch auf Ihre eigene psychische Gesundheit achten. Überforderung und Sorgen können emotional auf Dauer sehr belastend sein. Sprechen Sie mit Freund:innen, suchen Sie professionelle Unterstützung oder tauschen Sie sich mit anderen Angehörigen aus. Nur wenn es Ihnen gut geht, können Sie die Präsenz zeigen und die Stütze sein, die Sie sein wollen.
Auch wenn der Weg lang und herausfordernd sein kann: Mit der richtigen Unterstützung finden Betroffene schrittweise in ein selbstbestimmtes Leben zurück. Ihre Geduld, Ihr Verständnis und Ihre Liebe können dabei wertvolle Bausteine der Genesung sein.
Fazit
Das Post-Intensive-Care-Syndrom ist ein komplexes Thema, das Angehörige oft vor viele Fragen stellt. Indem Sie verstehen, warum Ihr geliebter Mensch auch nach der Entlassung Probleme hat, und lernen, wie Sie unterstützen können, leisten Sie einen wichtigen Beitrag zur Heilung. Denken Sie daran: Sie sind nicht allein, und es gibt Wege, gemeinsam wieder nach vorne zu schauen.
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